Marie Heijens & Tobias Heinemann
Die Digitalisierung der Bildungswelten fordert die sozioökonomische Bildung in verschiedener Weise heraus. So konstituiert sie als „epochaltypisches Schlüsselproblem“ (Wolfgang Klafki) vor dem Hintergrund der digitalen Kartierung von Öffentlichkeit als „Raum des Politischen“ (Ulrich Sarcinelli) nicht nur ein eigenständiges Unterrichtsthema, sondern hat überdies unmittelbar Auswirkung auf konkrete Fragen der Unterrichtsplanung. Betroffen ist dabei unter anderem die Materialauswahl. Fungierte das Schulbuch hier über Jahrzehnte als unumstrittenes Leitmedium, können Lehrkräfte nunmehr aus einem geradezu unüberschaubaren Pool von jederzeit verfügbaren Materialien aus dem Internet schöpfen, die zumeist kostenlos zugänglich sind. Neben Sharing-Plattformen und öffentlichen Institutionen wie z. B. der Bundeszentrale für politische Bildung tritt eine wachsende Zahl privatwirtschaftlicher Akteure als Anbieter von Lehr- und Lernmaterialien in Erscheinung.
So sind 33 von 40 im Deutschen Aktienindex (DAX) gelisteten Konzernen im Bildungsbereich engagiert – und nehmen insbesondere mit der Distribution von Unterrichtsmaterialien Einfluss auf die Vor- und Einstellungen von Schüler:innen. Verschärft durch den Umstand, dass digitale Unterrichtsmaterialien im Gegensatz zu Schulbüchern in keinem Bundesland eine kultusministerielle Prüfung durchlaufen, entzündete sich eine Kontroverse um Lobbyismus in Schulen und unzulässige Einflussnahmen auf Bildungsinhalte, die bis heute von wissenschaftlicher und gewerkschaftlicher Kritik begleitet wird. Die formulierte Kritik ist im Kontext von über die direkte Einflussnahme hinausgehenden Privatisierungs- und Ökonomisierungstendenzen im Bildungssystem verortet.
Die skizzierten Entwicklungen bereiten den Boden für das im ReTransfer-Projekt vom Team der Universität zu Köln entwickelte Fortbildungskonzept. Da angenommen werden muss, dass die schulischen Aktivitäten von Interessengruppen Schüler:innen über eine möglichst weitreichende Markenbindung als Kund:innen und potenzielle Arbeitnehmer:innen nachhaltig prägen, sollen Lehrkräfte insbesondere für die Herausforderungen der Materialauswahl und -evaluation im Feld der sozioökonomischen Bildung sensibilisiert werden. Die unterrichtspraktische Relevanz dieser Thematik konnte zunächst im Sinne der im Projekt vorgesehenen kokonstruktiven Entwicklung der Fortbildungen in Vorgesprächen mit Lehrkräften validiert werden. Die erhaltenen Rückmeldungen verdeutlichten zusätzlich, dass bei der Auswahl von fachdidaktisch und -wissenschaftlich geeigneten Materialien Informationsbedarf besteht, da vielfach nicht auf entsprechendes „Rüstzeug“ aus dem Studium zurückgegriffen werden konnte. Adressiert werden die einer besonderen Normativität unterworfenen sozioökonomischen Fragestellungen, weisen diese doch eine besondere Anfälligkeit für tendenziöse, manipulative und selektive Inhalte auf. Hierfür sollen zunächst Ansätze aus der Fachliteratur und der in der Praxis bereits etablierte Materialkompass der Verbraucherschutzzentrale Bundesverband erarbeitet und besprochen werden, um auf dieser Basis ein eigenes Evaluationsinstrument für den schulischen Einsatz zu erstellen. Die Analyse selbst soll schließlich anhand einschlägiger Materialien von den Lehrkräften erprobt und reflektiert werden.
Als weitere Facette digitalisierungsspezifischer Herausforderungen werden in der zweiten Hälfte der Fortbildung die im digitalen Raum virulenten Phänomene Fake News, Echokammern, Filterblasen und Postfaktizität behandelt. Sie werden auf unterrichtspraktischer Ebene hinsichtlich der Konsequenzen für die Förderung von Medienkompetenz in der sozialwissenschaftlichen Bildung beleuchtet. Gegenstand des an die Entwicklung des Fortbildungskonzepts angegliederten Forschungsprojektes ist die Frage, inwieweit das umfängliche Angebot digitaler Materialien auch in den Unterrichtsalltag hinter den Schultoren gelangt, welche Anbieter besonders beliebt sind und wie sich Handlungsroutinen von Lehrkräften mit Blick auf das Kuratieren von Materialien darstellen. Zu diesem Zweck wurde ein halb-standardisierter Fragebogen entworfen und einem Pretest unterzogen. Nach erfolgter Überarbeitung des Instruments soll die Umfrage in den kommenden Wochen und Monaten gestreut sowie im Zuge der Fortbildung angewendet werden, um die Debatte um den Einsatz digitaler Unterrichtsmaterialien empirisch zu fundieren.